Oberleitungsbusse in Deutschland | polisMOBILITY Magazin (2024)

Warum eigentlich nicht?

Kann alte Technik eine Lösung für die aktuellen Herausforderungen der Antriebswende sein? Der Obus hat in Deutschland einen schweren Stand – obwohl einiges für ihn spricht.

Oberleitungsbusse in Deutschland | polisMOBILITY Magazin (1)

Obusse in Opava, Tschechien (CC BY-SA 4.0 Oleksandr Dede)

Bis vor einigen Jahren waren elektrische Busse im deutschen Nahverkehr eine Seltenheit. Am Anfang des Jahrtausends gab es sie noch in drei Städten: Eberswalde, Esslingen und Solingen. Seit dem Ende der Ölpreiskrise war das Konzept nicht mehr besonders interessant, ein Überbleibsel einer vergangenen Zeit. Im Ausland, vor allem in der Schweiz und Osteuropa, war das immer anders. Die Städte in Deutschland, die ihren Obus nie abgeschafft haben, sind froh darüber: „Wir Eberswalder lieben unseren Obus, die ‚Strippe‘. Sie ist ein fester Bestandteil der städtischen Identität und durchaus ein wichtiger Imagefaktor. "Umso besser, dass der Obus mit grünem Strom auch einen Beitrag zur Verkehrswende leistet“, sagt Anne Fellner, Erste Beigeordnete und Baudezernentin der Stadt Eberswalde. Um zu verstehen, warum sie so begeistert ist und der Obus gleichzeitig ein Schattendasein führt, lohnt sich ein Blick in die Geschichte der Oberleitungsbusse.

Von der Weltausstellung ins Abseits

Die Idee ist über hundert Jahre alt und stammt, wie auch die der elektrischen Bahn, von Werner von Siemens. Schon 1882 erprobt er nahe Berlin sein „Elektromote“: eine elektrisch angetriebene offene Kutsche, die über eine Oberleitung und ein Schleppkabel mit Strom versorgt wird. Der Kurfürstendamm in Halensee ist damals eher ein Feldweg, auf dem die tonnenschweren Fahrzeuge mit eisenbereiften Speichenrädern aus Holz kaum zurechtkommen. Bei der holprigen Fahrt ist die ständige Stromversorgung fehleranfällig. Nur bei den Kosten gewinnt die Idee gegen eine auf Gleisen fahrende Bahn. Nach wenigen Monaten stellt Siemens die Versuchsstrecke wieder ein.

Trotzdem versuchen sich Ingenieure auf der ganzen Welt an Verbesserungen der „gleislosen Bahn“: Auf der Weltausstellung 1900 in Paris fährt erstmals eine elektrische Buslinie durch den Stadtwald Bois de Vincennes. Der ehemalige Siemensianer Max Schiemann entwickelt den heute noch eingesetzten Stromabnehmer mit Schleifschuh, der auf einer Erfindung des Briten Alfred Dickinson aufbaut. Er baut eine Strecke in der Sächsischen Schweiz und präsentiert seine Technik auf der Turiner Weltausstellung im Jahr 1902. Schiemann lässt seine gleislosen Bahnen nicht nur Passagiere, sondern auch Post und Pakete transportieren. Doch so wie fast alle seine Mitstreiter und Konkurrenten bleibt er wirtschaftlich erfolglos. Nach dem Ersten Weltkrieg verschwinden fast alle gleislosen Bahnen in Europa.

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Schiemanns Bielatalbahn in der Sächsischen Schweiz um die Jahrhundertwende. (Siemens Historical Institute)

Mit glatteren, geteerten Straßen und Gummireifen ändern sich die Vorzeichen nach dem Krieg. Zeittypisch „Obus“ genannt, verbreitet sich der Oberleitungsbus in der Zwischenkriegszeit auf der ganzen Welt. Nach Deutschland kehrt er 1932 zurück, als RWE als Verlängerung der RWE-Straßenbahn eine Obus-Strecke von Idar nach Tiefenstein baut. Da es in der Kriegswirtschaft sowohl an Straßenbahnschienen als auch an Diesel mangelt, werden in zahlreichen Städten neue Systeme gebaut. In Großstädten wie Hannover, Leipzig oder Berlin sind sie eine Ergänzung zur Straßenbahn. Nach dem Krieg ändert sich wenig an der Richtung. Besonders in kleineren Städten sind Obusse eine willkommene Alternative zu den in die Jahre gekommenen Straßenbahnnetzen, da keine Notwenigkeit besteht, Gleise zu bauen oder zu erneuern. In den 1950er Jahren gab es in Deutschland einen danach nie wieder erreichten Höchststand an Obussen. Mit den immer autogerechteren Städten und gesenkten Steuern für Diesel verliert die Technik allmählich an Relevanz und die Nachteile treten in den Vordergrund: Neue Fahrzeuge sind schwer zu bekommen, die Oberleitungen sind wartungsintensiv. Da ein Obus nur dort fahren kann, wo es eine Fahrleitung gibt, ist er auch nicht besonders flexibel. Nach und nach stellen fast alle Städte auf Dieselbetrieb um. Als letztes gehen 1995 der Duobus Essen und der Obus in Potsdam außer Betrieb. Auch in Esslingen, Eberswalde und Solingen steht damals das Aus der Obusse im Raum, letztlich kommt es aber nicht dazu. Eine Studie im Rahmen der Mobilitäts- und Kraftstoffstrategie (MKS) kommt 2015 zu dem Schluss, dass die Akzeptanz darunter leide, dass es in Deutschland anders als im Ausland „keine durchgehende positive O-Buskultur“ gebe.

Das verkannte Genie im ÖPNV

Zahlreiche Städte in der Schweiz, in Italien und Osteuropa investieren in den letzten Jahren in ihre Systeme oder bauen sogar neue, wie jüngst Avellino in Kampanien. „Aus verkehrsplanerischer Sicht ist es eigentlich schwer nachvollziehbar, warum eher wenig Interesse am Batterie-O-Bus in Deutschland besteht. Die systemischen Vorteile sind vielfältig, die Busse sind unter bestimmten Einsatzvoraussetzungen auch wirtschaftlich und das System ist lokal emissionsfrei“, sagt Petra Strauß, Bereichsleiterin für ÖV-Planung und Bewertung bei PTV Transport Consult. Prof. Matthias Thein, der bis 2022 an der Westsächsischen Hochschule Zwickau an Verbesserungen der Obustechnik forschte, ergänzt: „Der Batterie-Obus ist das verkannte Genie im ÖPNV. Seine Batteriemasse pro Person ist etwa so groß wie bei einem Pedelec und die Reichweite praktisch unbegrenzt.“ Die kleine Fahrbatterie mache es möglich, Linien flexibel zu verlängern, ohne an problematischen Stellen Oberleitungen zu installieren. Im Gegensatz zu Bahnen, bei denen die stromleitenden Schienen gleichzeitig die Rückleitung bilden, benötigen Oberleitungsbusse zur Stromversorgung immer zwei parallel verlaufende Leitungen. An den Verzweigungsstellen der Linien sind daher sogenannte Luftweichen erforderlich. Die hoch über den Straßenkreuzungen in der Luft hängenden Konstruktionen neigen zum Einfrieren, sind schwer zu warten und lassen sich nur langsam befahren, weil die Stangen sonst aus der Führung rutschen und den Bus zum Anhalten zwingen. In der Schweiz vermeidet man sie bei neuen Obuslinien nach Möglichkeit ganz.

Möglich macht das die Batterietechnik. Petra Strauß erklärt: „Der Batterie-O-Bus vereint die bewährte und zuverlässige Technik von konventionellen Oberleitungsbussystemen mit moderner Batteriespeichertechnologie. Dadurch ist er zuverlässig und sehr leistungsfähig. Bei Linien mit hohem Fahrgastaufkommen und langen Umläufen ist er deshalb besonders geeignet.“ Sie berichtet, wie das Beratungsunternehmen die Möglichkeiten für den Einsatz in Deutschland abgeschätzt hat: Von etwa 70 städtischen Räumen, die ein hochwertiges, dichtes ÖPNV-System brauchen und die für Obus-Systeme strukturell infrage kämen, gebe es nur in der Hälfte eine Straßenbahn. Etwa der identifizierten 20 Städte sind topografisch bewegt, mit einer mittleren Steigung über 4 %. „Hier könnte sich der Batterie-O-Bus besonders eignen, um emissionsfreien Nahverkehr einzuführen“, so Strauß weiter.

Der Fokus auf Städte im Bergland liegt nahe: Bei der energieintensiven Bergfahrt versorgt die Oberleitung die Busse mit Energie („in-motion charging“), auf der Talfahrt wird Bremsenergie eingespeist. In Prag wird ein solcher Betrieb seit 2017 getestet: Die neue Linie 58 funktioniert weitgehend wie ein Batteriebus, der an den Endstellen lädt. Für die Bergfahrt von Palmovka – in der Talsohle liegend – hinauf in den Stadtteil Letňany wurde jedoch eine Oberleitung errichtet. 1,4 km der knapp fünf Kilometer langen Strecke sind damit ausgestattet.

Marburg und das Planungsrecht

In Marburg wird derzeit etwas Ähnliches geplant: Hier soll möglicherweise das vierte Obussystem Deutschlands entstehen. Die Stadt im Lahntal plant einen Ringbetrieb von der Innenstadt und den beiden Bahnhöfen zum Klinik- und Unistandort auf den Lahnbergen. Diesen erreichen bisher täglich etwa 5.000 Menschen mit den Erdgasbussen der Stadtwerke. Die Überlegung ist, dass zukünftig die neuen Obus-Linien die besonders hochfrequentierten Strecken im Busnetz bedienen könnten.

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Ein möglicher Obus in Marburg? (© Stadtwerke Marburg)

Marburgs Bürgermeisterin Nadine Bernshausen berichtet, wie es in Marburg zu den Überlegungen kam. Die Stadtwerke Marburg hätten 2016 mit dem zuständigen Referat im Bundesverkehrsministerium Kontakt aufgenommen, nachdem auf der Basis der MKS-Studie eine Skizze für einen Obus in Marburg erstellt worden war. Danach folgte eine Machbarkeitsstudie, deren Ergebnisse auch auf andere bergige Städte übertragbar sein sollten. „Obwohl mehrere Städte (wie z.B. Berlin und Tübingen) seinerzeit eine Einführung von Hybrid-Oberleitungsbussen diskutierten, war zur damaligen Zeit lediglich die Stadt Trier für die Erstellung einer entsprechenden Studie zu begeistern“, erzählt Bernshausen. Man überlegte, wie viele Meter Oberleitungen, Unterwerke und Busse optimal wären, bevor man in das Planfeststellungsverfahren ging. Am 29. September beschloss die Stadtverordnetenversammlung, das Verfahren zu beginnen.

Eine verbindliche Entscheidung, ob das Vorhaben BOB Marburg umgesetzt wird, ist noch nicht getroffen. Nach einem positiven Abschluss des Planfeststellungsverfahrens, (voraussichtlich Ende 2024) soll noch einmal eine aktualisierte Prüfung erfolgen. Dies passiert vor dem Hintergrund, dass sich die Technik reiner Batteriebusse stark weiterentwickelt. Könnte man die Lahnberge künftig problemlos und klimaschonend mit reinen Batteriefahrzeugen bedienen, so läge es nahe, auf den aufwändigen Bau der Oberleitungsinfrastruktur zu verzichten. Daher soll eine Bewertung der aktuellen Leistungsfähigkeit und der Wirtschaftlichkeit erfolgen. Dann liegt die endgültige Entscheidung zur Umsetzung des BOB-Projekts bei der Stadtverordnetenversammlung, die sich letztlich auch gegen die Umsetzung des Vorhabens entscheiden kann. Mit der Inbetriebnahme rechnet man frühestens zum Fahrplanwechsel 2030/31.

Einer der Gründe, dass die deutschen Städte bei neuen Obus-Netzen zögern, ist die Tatsache, dass Oberleitungen im Gegensatz zu Ladestellen für Batteriebusse als „raumwirksam“ gelten und vor Baubeginn eine Planfeststellung benötigen. Das führt dazu, dass die Umstellung viel länger braucht. In Berlin-Spandau wurde ein angedachtes Obusnetz fast unbemerkt verworfen , da inzwischen auch Doppelgelenkbusse mit Batterietechnik verfügbar seien. Auf Anfrage teilte die Senatsverwaltung für Mobilität, Verkehr, Klimaschutz und Umwelt mit, dass ab 2027 Doppelgelenkfahrzeuge eingesetzt werden könnten. Zunächst müssten die Haltestellen und Wendestellen angepasst werden. Die Antriebswende machen solche langen Vorlaufzeiten nicht einfacher, meint auch Petra Strauß von PTV Transport Consult. „Die O-Bus-Infrastruktur kann vergleichsweise schnell gebaut werden, sie beschränkt sich ja oft nur auf Masten und Oberleitung. Trotzdem muss das gleiche Verfahren durchlaufen werden wie z.B. bei Straßenbahnen.“ Kiel hatte sich vor einem Jahr nach einem umfassenden Systemvergleich für eine Straßenbahn und gegen ein Bus-Rapid-Transit-System mit Batterie-Obussen entschieden. Dennoch sei es falsch, den Obus pauschal als Alternative zu verwerfen, meint Strauß. Je nach Einsatz könnten die Batterie-Obusse durchaus wirtschaftlicher als ein reiner Batteriebus oder eine Straßenbahn sein, aber das hänge von vielen Einflussfaktoren ab und müsse immer im Einzelfall geprüft werden.

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